Betrachtet man den Verlauf der Menschheitsgeschichte, so ist diese eng mit den jeweils verfügbaren Werkstoffen verbunden. Von früh an definiert sich die Geschichte der Menschheit auch in zentraler Weise über Materialitäten. „Dabei bezeichnen nach Meinung vieler Historiker die […] Begriffe Steinzeit, Bronzezeit, Eisenzeit usw. weniger geschichtliche Epochen als vor allem Kulturstadien.“ 2
Der Beginn des Anthropozän könnte womöglich ebenfalls anhand unserer künstlichen Stoffe erzählt werden. Erdacht in Laboren, produziert mittels idealer Maschinen, obsolet und ewig zugleich.
Roland Barthes nennt es ein Schauspiel seiner Endprodukte, ein prosaisches Material dessen Existenz einzig durch seine inhärente Prosaik gerechtfertigt wird, ein Stoff für Schmuck und Eimer der uns zum Staunen bringt. „Dieses Erstaunen ist übrigens ein freudiges, weil der Mensch am Ausmaß dieser Verwandlungen seine Macht ermißt und weil der Weg, den das Plastik dabei nimmt, ihm das beglückende Gefühl verleiht, virtuos durch die Natur zu gleiten.“
Kunststoffe klingen nach Moderne.
Vor ca. 60 Jahren wurden Kunststoffe als wunderbare Substanz einer der Zukunft zugewandten Gesellschaft gesehen, die Barthes als „alchemistische Substanz“ bezeichnete.
„So ist Plastik nicht nur eine Substanz, es ist die Idee ihrer unendlichen Transformation; es ist, wie sein gewöhnlicher: Name sagt, die sichtbar gemachte Allgegenwart. Übrigens ist es gerade deshalb ein wunder- barer Stoff: Ein Wunder ist immer eine plötzliche Transformation der Natur. Von diesem Staunen bleibt das Plastik durch und durch geprägt: Es ist weniger Objekt als Spur einer Bewegung.“ 4
Im wörtlichen und im kulturell konnotierten Sinn ist Kunststoff kein „echtes“ Material, sondern ein künstlicher Stoff, der nicht in der Natur, sondern im Labor entstand. Diese Künstlichkeit negiert Jean Baudrillard jedoch in seiner erstmals 1968 veröffentlichten Schrift „Le systèm de objects“: „In Tat und Wahrheit sind die Sub- stanzen nur was sie sind: Es gibt keine echten und unechten, keine natürlichen und künstlichen.“ 5
Baudrillard erinnert auch daran, dass Papier und Glas, die wir als natürlich bezeichnen, ebenfalls synthetische Materialien sind. „Eigentlich haben die Stoffe nur insoweit einen vererbten Adel, als er ihnen von einer kulturellen Ideologie verliehen wird, ganz nach der Analogie vom Mythos der Aristokratie in der menschlichen Gesellschaft, und auch dieses kulturelle Vorurteil vergilbt mit der Zeit.“ 6
Es stellt sich die Frage, inwiefern neu entwickelte Materialien den Sinn und die Bedeutung des Stoffs verändern. Dies fragt auch Baudrillard. Dass sie dessen Sinn und Bedeutung verändern, davon geht er aus. „Polymorphismus“ ist der Terminus, den er für diesen Bedeutungswandel findet – eine „Abstraktion höherer Ordnung, die das Spiel der universellen Assoziation der Stoffe eröffnet und folglich die formelle Gegenüberstellung von Naturstoff einerseits und Kunststoff andererseits überwindet.“ 7 Er formuliert auch seine Vorstellung, das unterschiedliche Materialien eine neue Bedeutung für die Gesellschaft übernehmen können, sie würden zu einem kulturellen Zeichen, losgelöst von ihrem ursprünglichen Zweck. „Diese untereinander verschiedenen Stoffe werden als kulturelle Zeichen homogen und können so in ein kohärentes System eingehen.“ 8 Alles ist kombinierbar und werde kombinierbar. Was Baudrillard 1968 andeutet, ist die Postmoderne.
Doch die Ursprünge der Kunststoffe liegen weit zurück. Und für bahnbrechende Erfindungen braucht es oft den Zufall.
Wer sich aufmacht um den Erfinder der Kunststoffe zu suchen, der wird ihn nicht finden, denn auf einen einzigen Forscher ist die Idee der Kunststoffe nicht zurückzuführen. Plastik oder Kunststoffe sind das Produkt von Forschern, Chemikern und Utopisten, die teils Jahrhunderte voneinander trennt. Manche von ihnen experimentierten Jahre lang. Anderen spielte der Zufall zu.
Die Ursprünge des Materials liegen in einer Zeit, die man mit unserem heutigen Verständnis von Kunststoffen kaum in Verbindung bringen würde. Der Steinzeit. Neu- ere archäologische Funde zeigen, dass bereits vor mindestens 80.000 Jahren eine thermoplastische Substanz, hergestellt wurde, und die damit als ältester Kunststoff der Welt bezeichnet werden kann.
1 aus dem Film Die Reifeprüfung von 1967, Mike Nichlos
2 Dietrich Baum, Kleine Geschichte der Kunststoffe, Hanser 2013
3 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Suhrkamp 2010
4 Roland Barthes, Mythen des Alltags, Suhrkamp 2010
5/6 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Campus Verlag 2007
7/8 Jean Baudrillard, Das System der Dinge, Campus Verlag 2007