Es beginnt zu regnen. | Janick Dietz

 

 

Es beginnt zu regnen.

„Es ringt. 9 Uhr bereits. 10 Minuten. Es ringt erneut. 10 Minuten. 10 Minuten. 10 Uhr. Kaffee, Müsli, Orangensaft, WebEx an. Kamera an oder aus? Nah, lieber aus. Ach Mist, Gruppenzwang, die anderen haben ihre an. Wo ist das gute Hemd? Herrgott wie es hier aussieht. Kamera etwas mehr darüber, genau. In Ordnung. Nennen wir das mal startklar. Oh hey, schön euch zu sehen! Wie geht‘s euch? Ach ja, auch so. Ihr habt aus Hannover gehört? Ja. Schlimm schlimm. So viele. Und alles so überlastet. Nein mir geht es gut, wohne ja alleine, habe keine großen Verpflichtungen. Mir tun die Väter und Mütter leid. Für die ist es echt hart gerade. Oh es sind alle da, entschuldige, es geht los! Danke dass ihr da wart, schönen Abend euch noch! Macht ihr noch was? Ah stimmt, es hat noch alles zu. Bis dann! Die verkratzte Klinke fühlt sich an wie ein Hebel zurück in die Wirklichkeit. Man hört Wind über die Fassaden streichen. Die Sonnenstrahlen verschieben sich bereits ins dunkle orange, was ein herrliches Wetter! An den See hätte man fahren müssen, schwimmen gehen. Die Füße durchs Gras schleifen, Sand umherschieben und ins noch recht eisige Wasser waten. Vielleicht morgen. Morgen war Freitag, da würde ich früher rauskommen. Zumindest ein wenig. Die Dusche würde es für heute tun müssen. Nasse Stränge verkleben mir das Gesicht, ich schaue herunter und erkenne bereits mehr. Das Wasser strömt, ganz unbeirrt. Über mir tritt es hinaus in die Welt, kaum Zeit zum umhersehen findet es seinen Weg, fällt, fällt, immer tiefer. Sammelt sich, strudelt umher und verschwindet in einem Loch. Nur manches bleibt hängen. Einige Flusen, ein paar Haare. Ein Garn aus meinem blauen Pullover. Gefangen oder gerettet? In jedem Fall vereinsamt. Ich fische nach ihnen, sie kleben fest. Es gelingt mit etwas Mühe. Ich halte das kleine Sieb in Händen, darin was in seinem Weg gestoppt wurde. Das meiste würde nie wissen, dass nicht alle es hinaus schaffen würden. Hinaus. Wo ist das? Ich spüle darüber, das Wasser strömt in kleinen Strudeln hinweg. Es hat es so einfach. Immer dorthin, wo hinunter ist. Das Handtuch ist weich, der Föhn warm. Frische Kleider lassen einen anderen Menschen in mir aufwachen. Ich öffne die Tür mit den quietschenden Scharnieren erneut und blicke hinaus. Ein dunkles rot spannt sich inzwischen über den Himmel. Vor mir, zwischen den Pflastersteinen wächst ein Büschel Gras. Ich entflüchte meinen Schuhen und hüpfe dem grün entgegen. Die Steine wurden frisch verlegt und alles ist noch recht sandig. Die Halme kitzeln, aber angenehm. Es beginnt zu regnen.“

 

Projekt und Kurzgeschichte von J. Dietz